Liebe Freund*innen,
Seit Wochen schon hat Volodymyr einen kleinen Stoffbeutel mit Blumensamen im Handschuhfach seines Autos. Er ist dafür eigens zu einem Freund mit grünem Daumen
gefahren und hat sich bei ihm die vielversprechendsten Samen für die Saison ausgesucht. Sein Plan war es ursprünglich, alles bereit zu haben, um den Frühling in einem wunderschön blühenden Garten genießen zu können. Jetzt musste Volodymyr jedoch umplanen und hat die Saat, die inzwischen eine beachtliche Strecke durch Europa zurückgelegt hat, in die Erde von Kapnikos Stathmos Katerini gepflanzt.
Volodymyr lebt seit über vier Wochen mit seiner Familie im Appartement von Kapnikos Stathmos. Wie Millionen von Ukrainer*innen musste auch er nach dem 24. Februar von einem Tag auf den anderen seiner Heimat den Rücken kehren und alles zurücklassen; Besitz, ärztliche Therapien, Pläne für den Frühlingsgarten, alles. Er ist einer der über 30 Personen, die in diesem März entweder für wenige Tage oder auch für mehrere Wochen Unterkunft, Nahrungsmittel, Klamotten, medizinische Versorgung, Schulunterricht für die Kinder und eine funktionierende soziale Struktur in Kapnikos Stathmos gefunden haben. Für ungefähr 30 weitere Personen hat unsere Gruppe ein warmes Bett und jede notwendige Unterstützung außerhalb von unserem Gelände organisiert.
Logistikzentrum für humanitäre Hilfe
Mit den ersten Schreckensbildern aus der Ukraine hat Kapnikos Stathmos reagiert und das Logistikzentrum für humanitäre Hilfe in volle Bereitschaft versetzt. Sofort haben wir mit der Botschaft Kontakt aufgenommen und noch am selben Tag zwei Paletten mit den wichtigsten Medikamenten sortiert und beschriftet ins Krisengebiet verschickt. Parallel dazu und mit Unterstützung von Geldspenden, unter anderem 7.000 Euro vom Förder- und Freundeskreis Elliniko e.V., haben wir neben unserem möblierten Appartement einen großen beheizten Raum auf unserem Gelände kurzerhand zum Schlafsaal mit 15 Doppelbetten umfunktioniert, um für die sich abzeichnende Welle an Geflüchteten bereit zu sein.
Und die Welle ist gekommen. Um ihr zu begegnen wurden mithilfe unserer sozialen Medien und unserer Website Anfang März öffentliche Aufrufe gestartet, die in der Region und darüber hinaus immense solidarische Resonanz gefunden haben. Tonnen an Sachspenden konnten auf diese Weise schon zielgerichtet in Kapnikos Stathmos gesammelt und verteilt werden; die Bedarfsliste, die täglich aktualisiert online für alle Bürger*innen und Unternehmer*innen einsehbar ist, hat dafür die nötige Orientierung geboten. Innerhalb von wenigen Tagen haben sich eine Vielzahl von Menschen gemeldet, die ein Zimmer in ihrem Haus, ihre Fachkompetenz aus dem Beruf oder die bloße Arbeitskraft anbieten wollten. Über 140 Freiwillige haben sich auf unserer Onlineplattform eingeschrieben, um zusammen mit uns eine zivilgesellschaftliche Antwort auf die Unzivilisiertheit des Krieges zu formulieren.
Die Geschwindigkeit und Effizienz, mit welcher Freiwillige sowie Hilfsgüter mobilisiert oder Arbeitsprozesse organisiert werden konnten, ist allerdings nicht dem Zufall geschuldet, sondern Resultat von vorausschauender Planung. Seit Jahren schon baut Kapnikos Stathmos seine Infrastruktur und Lagerbestände so auf, dass im Falle einer humanitären Krise angemessen und schnell reagiert werden kann – ganz gleich ob es ein Erdbeben in Kreta, Waldbrände in Euböa oder ein völkerrechtswidriger Krieg in der Ukraine ist, der die Not akut verursacht. Genau für diesen Fall und entgegen der vorherrschenden „just-in-time-Logik“ haben wir das Logistikzentrum für humanitäre Hilfe als festen Teil unserer über ein Jahrzehnt bestehenden Sozialen Lebensmittelausgabe eingerichtet. Es umfasst rund um das Jahr instand gehaltene und gefüllte Lager, die im Ernstfall die Versorgung hunderter Menschen mit allem Nötigen gewährleisten können.
Diese absolut grundlegende Vorbereitung hätten wir uns, auch dieses Mal, von denen gewünscht, die eigentlich in der politischen Verantwortung stehen. Nach über einem Monat Krieg und Vertreibung müssen wir leider festhalten, dass von Seiten des griechischen Staates, der Administration oder der Kommune nichts als ohrenbetäubende Stille zu vernehmen ist. Erneut wurde damit die Zivilgesellschaft bei der Bewältigung eines Problems gewaltiger Dimension allein gelassen, musste aus eigener Kraft und Kompetenz quasi staatliche Aufgaben übernehmen. Wieder haben wir von offizieller Stelle nur den zynischen Verweis auf „Eigenverantwortung“ zu hören bekommen.
Kapnikos Stathmos wird zusammen mit euch, liebe Freund*innen, auch weiterhin die solidarische Verantwortung übernehmen, die sich konsequent aus unseren fundamentalen Wertvorstellungen ergibt – solange wir das können. Die Mittel, Ausdauer und Möglichkeiten der Zivilgesellschaft sind nicht unerschöpflich. Wir hoffen inständig, dass die staatliche Exekutive reagiert, bevor uns und euch die Kräfte ausgehen.